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Der Überzählige

| Silke Rabus | Bilderbuch

Wie authentisch Christine Nöstlinger von ihrer Kinderlandverschickung im Sommer 1945 erzählt, beeindruckt ebenso wie die gleichsam mit Patina überzogene Illustrierung von Sophie Schmid. Der Tipp von Silke Rabus.

Es ist wohl einer der letzten Texte, der von der 2018 verstorbenen Christine Nöstlinger erscheinen wird: In der berührenden autobiografischen Schilderung schreibt die vielfach ausgezeichnete Autorin von der als traumatisch erfahrenen Kinderlandverschickung, die sie als achtjähriges Kind im Sommer 1945 erlebt hat. „Sich satt essen zu können war damals sehr wichtig für Mütter. Da fragten sie nicht lang, ob ihre Kinder kinderlandverschickt werden wollten.“

Wie es ist, wenn man nicht dazugehört
Die als Bilderbuch aufbereitete Erzählung nimmt ihren Ausgang drei Monate nach Kriegsende am Bahnsteig in Wien. Felder, Kühe und kleine Dörfer kennt das Mädchen nur von Bildern, die Situation im überfüllten Zug mit all den fremden Kindern ist bedrückend. Dazu kommt, dass der Fahrtwind die rosa Karte, die sie um den Hals trägt und die den Bestimmungsort für die Kinderlandverschickung festhält, abreisst. An den Namen kann sie sich nicht mehr erinnern, zu sagen traut sie sich nichts und die Situation wird immer beklemmender, je mehr Kinder aus dem Zug aussteigen. Dann ist Endstation. „Jetzt“, denkt das Kind Christine Nöstlinger, „jetzt kommt raus, dass ich nicht hergehöre.“

Authentisch erzählt, düster bebildert
Wie dicht die Autorin an ihren Kindheitserinnerungen bleibt, wie authentisch sie von Angst, Einsamkeit und Unsicherheit erzählt und wie unmittelbar sich diese Empfindungen in Herzklopfen oder Knieschlottern ausdrücken, geht tief. Dazu fasst Sophie Schmid die völlige Verlorenheit des Mädchens in dunkle Bilder. Wie Patina liegt die Trostlosigkeit auf den Illustrationen, die mit ihrem altertümlich anmutenden, wirklichkeitsnahen Stil zugleich auf die historische Thematik anspielen. Ein wenig Wärme zeigt sich lediglich bei der mit einem lichten Gelbton akzentuierten Protagonistin und den mit ihr in Beziehung stehenden Personen. Viele sind es nicht.

Von Angst und Mut
Als die restlichen Kinder schliesslich im Gemeindeamt an die einzelnen Bauern verteilt werden, lässt sich die Entdeckung nicht mehr vermeiden. Mit 20 Kindern hat man gerechnet, gekommen sind 21. Doch während die junge Christine von einem Bauern mitgenommen wird, bleibt ein anderer Junge an ihrer Stelle übrig, der „Überzählige“. „Aber geholfen habe ich ihm nie. So viel Mut kann man von einer Achtjährigen, die ihre Angst nicht loswird, [...] auch nicht verlangen“, heisst es am Schluss. Durchaus betreten bleibt man nach der Lektüre dieses so ehrlich erzählten Zeitdokuments zurück. Denn wer kennt sie nicht – die Zerrissenheit zwischen dem Wunsch dazuzugehören und doch zu wissen, was eigentlich richtig wäre?


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Silke Rabus

Silke Rabus ist Print- und Online-Redakteurin, Biografin, Lektorin, Journalistin, Kritikerin und Literaturvermittlerin. 
  • Titel
    Der Überzählige
  • Autor:in
    Christine Nöstlinger
  • Genre
    Fiction
  • Verlag
    Nilpferd im G&G Verlag
  • Erscheinungsdatum
    2019
  • Seiten
    40
  • Illustrator:in
    Sophie Schmid
  • Bewertung