Der Ursprung Phantasiens
"Der Ursprung Phantasiens" heisst die spannende Kurzgeschichte der Leporello-Kinderredaktorin Lucia Sague. Leporello veröffentlicht jede Woche in Folge ein Kapitel. Hier könnt ihr die ersten sieben Kapitel lesen. Das achte Kapitel schalten wir nächste Woche auf.
Sol starrte sie fassungslos an: „Wow, du siehst wunderschön aus, Liv!“. Sie lächelte dankbar. Er trat ein und musterte alles: „So ein Zimmer schuldest du mir jetzt auch!“ Olivia grinste. Sol war Olivias bester Freund. Er war gross und überragte Olivia um ein weites. Seine schwarzen, verstrubbelten Haare hingen ihm ins Gesicht und jedes Mal, wenn Olivia es erwähnte, pustete er sich einfach kurz die Haare aus dem Gesicht. Seine smaragdgrünen Augen waren immer verschmitzt und fröhlich. Er war die wichtigste Person in Olivias Leben.
Sol trat an das grosse Fenster und pfiff anerkennend. „Da sind ja ziemlich viele Leute da unten! Die sind alle sicher nur für mich gekommenen“, witzelte er.
Olivia fragte nervös:
„Sind da wirklich so viele Leute?
Was, wenn sie mich hassen?
Was, wenn ich keine gute Königin bin?
Was wenn …“
Sol versuchte sie zu beruhigen und umarmte sie: „Es wird alles gut werden.“ Olivia atmete tief durch: „Du hast Recht. Es wird alles gut werden. Danke Sol."
Es klopfte wieder an die Tür. Ein kleines Wesen trat ein. Es sah aus wie ein Fisch, nur mit einer Omabrille und Menschenbeinen. Das Wesen quakte mit hoher Stimme: „Eure hoheitliche Majestät, Königin aller Länder, goldäugige Gebieterin!“ Das kleine Wesen holte tief Luft und sprach weiter: „Und natürlich auch euer hoheitlicher Lord von Phantasien, Gebieter aller vier Himmelsrichtungen und Hüter der Geschichte von Phantasien! Die Krönung fängt gleich an!“
Sol grinste. „An eine solche Anrede könnte ich mich gewöhnen.“ Olivia knuffte ihn in die Seite. „Du bist so ein Idiot!“ Sie wandte sich zur Dienerin: „Xaranda, du kannst mich ruhig Olivia nennen. Und dem da drüben kannst du einfach Sol sagen. Ausserdem: ich wurde ja noch gar nicht gekrönt!“ Xaranda verbeugte sich unterwürfig: „Tut mir leid … Olivia und Sol! Ich kam nur um euch zu benachrichtigen, dass die Krönung gleich anfängt.“
Olivias Herz fing schneller an zu schlagen und sie krallte sich Sols Arm. Xaranda verbeugte sich, starrte noch einen Moment sehnsüchtig auf Olivias Kleid und verschwand wieder.
2. Kapitel :: Die Krönung
Olivia lief im Zimmer unruhig hin und her und konnte sich nicht beruhigen. Sie ging zu ihrem Balkon, und sah hinunter. Unten warteten Milliarden von Wesen und sie jubelten laut. „Sol, glaubst du, sie werden mich mögen?“, fragte Olivia unsicher. „Das gleiche hast du mich schon vor etwa fünf Minuten gefragt.“ Sol‘s verschmitzter Ausdruck war verschwunden und er trat näher zu Olivia: „Meine Antwort wird immer die gleiche bleiben. Du wirst die beste Königin, Kaiserin, was auch immer!“ Er fuchtelte herum, und Olivia lachte perlend. Sol hatte recht. Sie musste sich keine Sorgen machen.
Sol nahm ihre Hand und zog sie in Richtung goldene Tür. Sie würde als Olivia herausgehen und als Kaiserin zurückkommen. Sie stolperte hinter Sol her und fragte ihn: „Können wir langsamer machen? Mein Kleid macht das nicht mit!“ Olivia schien es, als wäre Sol aufgeregter als sie. Vor den grossen Toren des Elfenbeinturms stoppte Sol. „Willst du das wirklich tun Liv?“ Er sah sie abwartend an. Sie konnte seinen Blick nicht genau deuten. Aber was sie wollte, das wusste sie genau!
Die Tore öffneten sich wie von selbst. Hand in Hand liefen sie eine kleine Treppe hinunter. Unzählige Phantasier:innen warteten unten, und veranstalteten einen Höllenlärm. Olivia lächelte alle an, winkte umher, und reichte allen die Hände. Sol stand neben ihr, und flüsterte ihr ins Ohr: „Ich höre mich kaum selbst!“ Vor dem Altar angekommen trat Sol ein paar Schritte zur Seite, um Olivia Platz zu machen. Sie sah sich den Altar genauer an. Er war aus zwei hohen Marmorsäulen geformt – in Schlangenform. Xaranda wartete beim Altar. Sie öffnete eine aus Hand gefertigte Elfenbein-Schatulle und nahm ein Amulett heraus. Xaranda legte ihr das Amulett um.
Plötzlich wurde es totenstill. „Wieso passiert nichts?“, flüsterte Olivia Xaranda zu. „Ihr müsste dem Amulett einen Namen geben!“ Olivia überlegte kurz und sagte dann ganz laut, damit alle es hörten: „„Auryn!“ Augenblicklich leuchtete das Amulett so hell auf, dass alle die Augen schliessen mussten. Als das Licht verebbte, waren alle für einen Moment sprachlos. Dann fingen sie an zu schreien und zu toben – und dies noch viel lauter als zuvor. Sol rannte zu ihr, und umarmte sie. Du hast es geschafft Liv!“ Olivia atmete tief durch. Sie war jetzt die Kaiserin von Phantasien!
Aber sie hatte nicht gemerkt, wie die Erinnerung an ihre schlimmste Angst langsam verblasste.
3. Kapitel :: Albträume
Nun war es langsam Nacht geworden. Der silberne Mond leuchtete hell am nächtlichen Himmel und Olivia sah den Mond voller Bewunderung an. Gross, geliebt, wunderschön – doch allein. Der Mond wurde von der Sonne beleuchtet. Wie ironisch. Der Mond erinnerte Olivia an sich selbst und Sol. Doch es war zu spät für diese Nachtgedanken. Sie lief zu ihrem Bett. Ihr goldenes Nachtgewand streifte den Boden. Das Nachtgewand war speziell für sie vorbereitet worden. Das goldene Kleid hatte lange Ärmel und reichte bis zum Boden. Um ihren Hals baumelte das Amulett „Auryn“. Es war jetzt ein Teil von ihr. Es fühlte sich an, als wäre es schon immer da gewesen. Olivia legte sich in das riesige Bett, und schlief friedlich ein.
Die zehnjährige Olivia rannte so schnell sie konnte. Hinter ihr waren die Wächter des Waisenhauses. Ihr graues Kleid war zerfetzt und pitschnass. Ihre schwarzen, zerzausten Haare flogen hinter ihr her. Die Wächter riefen: „Komm zurück! Du kannst nicht weglaufen!“ Olivia wusste: es war sinnlos, doch sie musste es trotzdem schaffen. Sie bog in eine Seitengasse ein. Verdammt: eine Sackgasse! Die Wächter kamen mit elektrischen Tasern auf sie zu, und Olivia drückte sich an die Wand …
Mit einem panischen Schrei wachte Olivia auf. Wer war dieses Mädchen? War sie das? Nein das konnte nicht sein! Sie stand auf und hastete zu ihrem Spiegel. Und sah die schöne junge Frau, die sie am Morgen gewesen war. Sie atmete tief durch. Trotzdem war etwas in ihrem Inneren aufgewühlt. Sie konnte nicht wieder schlafen gehen. Und die Diener:innen waren sicher schon auf dem Weg. Sie konnte auch nicht mit diesem Schlafgewand rausgehen. Bevor sie einen klaren Gedanken fassen konnte, wurde ihr schwarz vor Augen.
Das Waisenhaus war ein trostloser Ort. Das Gebäude war grau, wie eigentlich alles. Sogar das Essen war grau. Olivia zupfte sich ihre Strähnen vor ihr zerschundenes Gesicht. Sie war vor ein paar Stunden auf der Strasse aufgefunden worden. Die Leiterin des Waisenhauses fragte sie: „Wer bist du? Und wie alt bist du?“ Olivia antwortete nicht. Der Wächter, der sie hierhin gebracht hatte, packte sie brutal am Arm und blaffte sie an: „Wie alt bist du!“ Olivia unterdrückte mit Mühe einen Schrei. „Ich bin Olivia. Ich bin neun Jahre alt.“ Die Leiterin sah sie abschätzig an. „Zimmer 2“, sagte sie. Der Wächter schleifte sie weg. Vor dem Zimmer zwei, packte er sie noch härter: „Wenn du dich irgendwann gegen mich stellst oder dich gegen mich wehrst, passiert das!“ Er nahm ein schwarzes Gerät aus der Tasche und drückte es in Olivias Rücken. Es summte, und Olivia schrie laut auf, bevor sie zusammenbrach.
Olivia musste weg. Sie stürmte aus dem Zimmer, brach alle Türen auf, die ihr im Weg standen. Die Tränen rannen über ihre Wangen und Olivia konnte sie nicht zurückhalten. Sie stiess auch das äussere Tor auf und dann war sie draussen. Sie rannte ohne Plan irgendwo hin und plötzlich stoppte sie. Vor ihr ragte eine riesige goldene Blüte aus dem Boden. Die Blume beugte sich zu ihr herunter. Olivia wagte es nicht zu atmen. Es erschien ihr richtig auf die Blume zu steigen, also tat sie es einfach. Sie setzte sich hin, und sah in den Mond. Hier war es tausendmal besser als im neunzigsten Stock zu sitzen und alleine zu sein. In diesem Moment kam ihr der perfekte Name für die Blume in den Sinn: „Nuriona“.
Doch sie hatte nicht gemerkt, dass ihr Name verschwunden war. Einfach weg. Für immer.
4. Kapitel :: Die Glücksdrachen
Die Kindliche Kaiserin wachte in ihrem Bett auf. Sie hatte keine Ahnung wie sie dorthin gekommen war. Sie stand schlaftrunken auf und lief aus dem Zimmer. Es war aber alles leer. Sie durchsuchte alle Stockwerke und rief nach den mindestens hundert Dienern. Doch niemand war da. „Xaranda? Sol?“, rief sie. Die Tore waren offen und vor dem Tor standen alle Diener. Die Kindliche Kaiserin schob sich ärgerlich durch die Menge. Ganz vorne war Sol: „Was machen alle hier Sol und …“. Ihr Atem stockte. Vor ihr ragten riesige, weisse Drachen auf. Sie erinnerten an Schlangen, nur viel anmutiger und edler. Die Drachen schwebten über dem Boden und drehten Kreise in der Luft, als ob sie keine Schwerkraft kennen würden. Als ein wunderschöner, perlweisser Drache sie ansprach, wurde es still auf dem Platz.
„Geehrte Kindliche Kaiserin, goldäugige Gebieterin. Wir sind die Glücksdrachen und wollten euch dazu einladen eine Runde in den Lüften mit uns zu drehen.“ Bevor die Kindliche Kaiserin etwas erwidern konnte, schrie Sol aufgeregt: „Ja, ja! Das wird so lustig!“ Der Drache runzelte die Stirn. „Wer ist das?“, fragte der Drache. „Wenn er stört, können wir ihn wegbringen.“ „Nein, nein! Er gehört zu mir!“, sagte die Kindliche Kaiserin eilig. Sol grinste breit und sprang aufgeregt herum. Tief in seinem inneren war er immer noch ein Kind. „Ich muss mich noch umziehen gehen! In meinem Nachtgewand kann ich unmöglich auf einem Drachen reiten!“ Der Drache verzog das Gesicht zu einem breiten Grinsen. Es sah seltsam aus, aber trotzdem vertrauenswürdig. „Meine goldäugige Gebieterin, ihr braucht euch nicht umzuziehen.“ Der Drache legte sich ihr zu Füssen. Sie stieg auf, und der Drache hob federleicht ab. Sie drehten ein paar Runden und neben ihnen tauchte plötzlich ein anderer Drache auf. Sol und winkte ihr zu. Dabei verlor er fast seinen Halt und das sah so komisch aus, dass die Kindliche Kaiserin laut anfing zu lachen. Plötzlich schoss ihr Drachen steil in den Himmel hinauf. Sie presste sich an die warmen und glatten Schuppen des Drachen, und sah hinunter. Sol war nur noch ein kleines Pünktchen. „Ich bin Adamantem, der Drache des Mondes.“ Ehrfürchtig hauchte die Kindliche Kaiserin: „Des ganzen Mondes?“ Adamantem nickte, und schoss nach unten. Die Mähne des Drachen wehte ihr entgegen und die Kindliche Kaiserin drehte ihren Kopf zur Seite, um die seidenweichen Haare nicht in den Mund zu bekommen.
Sann sah sie es. Sol war vom Drachen heruntergefallen. Zuerst traute sie ihren Augen nicht. Doch Sol fiel wirklich. Sol schrie panisch: „Liv!“. Die Kindliche Kaiserin dachte nicht nach. Sie schrie auf und Adamantem sauste dem Drachen und Sol hinterher. Die Kindliche Kaiserin streckte die Hand nach Sol aus. Es reichte nicht! Alle Erinnerungen an Sol durchfluteten ihr Gehirn. Es durfte einfach nicht sein, es durfte einfach nicht geschehen. Nein, sie konnte ihn nicht verlieren! Sie streckte sich noch mehr und versuchte Sol näher zu kommen. Er wollte ihre Hand fassen, doch schaffte es nicht. Das letzte das sie sah, war sein entsetztes Gesicht. Dann schlug er auf dem Boden auf und seine Gesichtszüge, einst voller Freude, erschlafften.
5. Kapitel :: Die Hälfte von Auryn
Adamantem landete und die Kindliche Kaiserin stieg so schnell ab wie sie nur konnte. Sie rannte auf Sol zu und kniete sich neben ihn. Sie fühlte seinen Puls, doch da war nur ein schwaches Pochen. Sie sah auf und schrie einen Diener an: „Hol doch Hilfe!“ Der Diener zuckte zusammen. Die Kindliche Kaiserin war normalerweise sanftmütig und nett, doch jetzt hatte sie sich in eine lebende Bombe verwandelt. „Wird‘s bald!“ der Diener trippelte los und ein Dutzend anderer Diener und Dienerinnen folgte ihm. Adamantem machte eine Kopfbewegung und alle Glücksdrachen entfernten sich. „Sol! Komm schon! Wach auf! Du kannst nicht einfach sterben! Lass mich nicht alleine Sol!“. Eine Träne lief ihr über die Wange. Sie beugte sich zu Sol und strich ihm eine schwarze Strähne aus dem Gesicht. Die Diener und Dienerinnen kamen mit einer Liege zurück und legten Sol darauf. Die Kindliche Kaiserin half und jeder, der auch nur etwas Winziges falsch machte, wurde angeschrien und zwar von der Kindlichen Kaiserin höchstpersönlich.
Als Sol in sein Gemach gebracht wurde, waren schon die besten Ärzte zur Stelle. Die Kindliche Kaiserin wandte sich voller Zorn den Glücksdrachen zu. „Wer war das!“ Adamantem trat nach vorne. In seinen Augen war Reumut und auch ein wenig Trauer für den Jungen, den er kaum gekannt hatte. „Goldäugige Gebieterin: es tut uns sehr leid“, fing er an, doch die kindliche Kaiserin unterbrach ihn wütend: „ Sol ist von einem Drachen gefallen! Wer war das! Trete sofort vor, du Feigling!“ In ihrem Kopf hämmerte es laut und tausend Gefühle rannten in ihren Gedanken umher. Doch ein Gefühl, nein, ein Verlangen war besonders stark: Rache! Adamantem wollte widersprechen, doch der Anblick der Kindlichen Kaiserin war so furchterregend, dass er verstummte und zur Seite glitt. Hinter ihm trat ein junger Drache hervor. Dieser senkte traurig und voller Verzweiflung seinen Blick. Die Kindliche Kaiserin sah den jungen Drachen an und begriff, dass es ein Unfall war. Sie wandte sich ab und stürmte die Treppe hinauf zu Sols Gemach. Sie öffnete die Tür und rannte auf sein Bett zu. Dort lag er mit geschlossenen Augen. Alles verschwand um sie herum. Sie merkte nicht, dass der warme Frühlingstag, zu einem kalten, regnerischen Wintertag geworden war. Diese Stille war unerträglich, also fing die Kindliche Kaiserin an zu reden …
6. Kapitel :: Die Geschichte von Mond und Sonne
„Der Mond schien ganz hell. Er war ganz allein. Jede Nacht. Es gab jedoch einen einzigen Augenblick, an dem sich Mond und Sonne trafen. Nur für eine Sekunde, aber diese eine Sekunde machte ihn unglaublich glücklich … Die Sonne war gross und stark und wenn die beiden aufeinander trafen, spürte der Mond ein seltsames, warmes Gefühl. All diese Energie – diese geballte Liebe – liess der Mond an einem Tag frei. Und aus dieser Energie, dieser Liebe wurde das Amulett Auryn. Priesterinnen fanden das Amulett, und bewahrten es auf. Und zwar für den nächsten Mond und seine Sonne. Manchmal kann der Mond, der Träger von Auryn, ein Stück dieser Energie seiner Sonne zurückgeben.“
Urplötzlich glühte Auryn, wie zuletzt bei der Krönung, auf. Aber dieses Mal war es anders. Goldener Staub flog in Spiralen herum. Fasziniert beobachtete die Kindliche Kaiserin den Staub. Darin sah sie eine Erinnerung. Der Mond und die Sonne waren nebeneinander. Zusammen! Die Kindliche Kaiserin verstand: sie war der Mond und Sol war ihre Sonne. Der Staub wirbelte herum und legte sich auf Sol. Ein letztes Mal glühte er auf. Sol schlug erschrocken die Augen auf. Die kindliche Kaiserin stürzte sich auf ihn und umarmte ihn. Sie war gerade so dankbar für den Staub, die Sonne und den Mond. Aber sie hatte vergessen das sie einmal keine Kaiserin gewesen war.
7. Kapitel :: Die Erinnerung
Seitdem Sol aufgewacht war, wich die Kindliche Kaiserin nicht mehr von seiner Seite. Sie kümmerte sich mehr um ihn als die Diener:innen und das war eigentlich praktisch unmöglich. Sol humpelte noch ein wenig, aber sonst ging es ihm eigentlich gut. Es war Abend und Sol begleitete die Kindliche Kaiserin zu ihrer Schlafzimmertür. „Danke“, wisperte sie leise. Sol antwortete: „Kein Problem Liv.“
Liv? Wer ist Liv? War es eine Freundin von ihm? Eifersucht durchflutete die Kindliche Kaiserin. „Gute Nacht!“ Sie schloss laut die Tür vor Sol‘s erstaunten Augen, legte sich auf das Bett und deckte sich zu. Sie konnte nicht schlafen! War sie etwa eifersüchtig? Aber nein, das konnte nicht sein. Sie war die Kaiserin. Jeder liebte sie! Niemand war besser als sie! Aber trotzdem plagten sie Selbstzweifel. Sie lag noch lange wach, bevor sie einschlief.
Als Olivia zögernd vor dem Zimmer zwei stand, öffnete sich die Tür. Ein kleiner Junge mit schwarzen Locken und hellgrünen Augen stand vor ihr. Er war bleich und ein wenig grösser als sie. Sie wich instinktiv ein paar Schritte zurück. Der Junge strich sich die Haare aus dem Gesicht, hob langsam die Hände und sagte beschwichtigend: „Ich bin Sol. Ich werde dir nichts tun. Wer bist du?“ „Olivia.“, antwortete sie. Der Junge öffnete die Tür noch einen Spalt breiter. „Du kannst hereinkommen! Es war noch nie jemand in meinem Zimmer! Das wird spannend. Darf ich dich Liv nennen?“
Liv? Ein seltsamer Name ... „
Ich überlege es mir noch.“
Sol zuckte mit den Schultern.
„Na gut Liv!“, antwortete er grinsend.
Und dann trat Olivia ins Zimmer.
Die Kindliche Kaiserin wachte urplötzlich auf. Vielleicht hatte sie geschrien, denn im nächsten Moment kam Sol herein. „Ich habe etwas gehört. Geht es dir gut?“ Sein Gesicht zeigte Angst. Die Kindliche Kaiserin wollte antworten. Sie wollte ihm erzählen was los war, doch dann wurde wieder alles schwarz vor ihren Augen.
Der Schrei von Sol hallte durch die ganze Mensa. Er war voller Schmerz. Olivia konnte dem nicht mehr zuhören. Sol wurde gerade bestraft, und das nur ihretwegen. Er wollte eine Extraration Essen für Olivia stehlen, doch er war erwischt worden. Olivia wippte vor und zurück, die Arme um ihre Knie geschlungen. Niemand half Sol, niemand machte irgend etwas. Sol’s nächster Schrei zerriss ihr fast das Herz. Sie stand auf und rannte zu ihm. Sie versuchte die Wächter von Sol loszureissen, doch diese wehrten sie mit Leichtigkeit ab. Ein Wächter grinste hämisch und rammte Sol den Taser nochmals in den Rücken. Olivia schlug ihm die Faust in den Magen und der Wächter würgte. Sie nutzte den Moment der Überraschung, um zu fliehen. Sie packte Sol, der am ganzen Körper zitterte, am Kragen und schleifte ihn mit sich. Sie war auf der Strasse aufgewachsen, war wehrhaft und stark und deswegen konnte sie Sol mit Leichtigkeit über den Rücken werfen und losrennen. Nur weg von hier: drei Jahre im Waisenhaus waren genug! Nun war sie zwölf und bereit endlich abzuhauen!
8. Kapitel :: Die unsichtbaren Mächte
Als die Kindliche Kaiserin aufwachte, war sie in einer Sänfte. Es war unglaublich warm, sie konnte nicht nach draussen sehen, alles war mit weissen Tüchern verdeckt. Das Innere der Sänfte war recht bequem und überall lagen Decken und Kissen. Dann fiel ihr Blick auf Sol. Er beobachtete sie eingehend. „Was ist denn?“, fragte die Kindliche Kaiserin. Sol blieb für eine lange Weile still, und sagte dann: „Olivia. Ich war hier mit dir in Phantasien und alles war perfekt. Du wurdest gekrönt, ich war ein Lord, alles war gut. Aber du bist in letzter Zeit so seltsam. Du kannst dich weder an kleine, noch grosse Sachen erinnern. Und du machst komische Geräusche im Schlaf. Die Dienerinnen und Diener munkeln schon, dass mit dir etwas nicht stimmt.“ Sol war nicht mehr lustig drauf. Jetzt war es ihm richtig ernst. Er fuhr sich mit der Hand durchs Haar, wie immer wenn er nervös war. Die Kindliche Kaiserin antwortete nicht. Wenn Sol nicht gut drauf war und das passierte fast nie, konnte er richtig wütend werden. Also war es vielleicht besser, gar nicht zu antworten.
Den ganzen Weg lang sprach keiner der beiden ein Wort und als es Nacht wurde, ging Sol. Er schob die weissen Tücher zur Seite und die Kindliche Kaiserin sah, wo sie waren. In einer Wüste! Sie sah alles nur für eine Viertelsekunde, doch sie versuchte sich alles einzuprägen. Dunkler Sand, der sich endlos erstreckte. Gelegentlich ein Paar Steine und sieben Pferde standen vor der Sänfte und tranken durstig aus einem Holzeimer. Das sah gar nicht nach Phantasien aus, dem Land voller Leben und Wunder. Dies hier war eine tote Wüste. Wo brachte sie Sol nur hin? Vor dem Einschlafen dachte die Kindliche Kaiserin nach: was sollte sie nur tun? Sol hatte sie zwar nicht eingesperrt, doch sie hatte trotzdem Angst rauszugehen. Da kam ihr eine geniale Idee. Sie musste unbedingt die Allwissende finden.
In dieser Nacht verschwanden die Pferde der Sänfte. Und genauso ihre Erinnerung an den Elfenbeinturm.
Die heisse Wüstensonne weckte die kindliche Kaiserin auf. Sie wälzte sich noch eine Weile herum, doch dann merkte sie wo sie sich befand. Sie war immer noch in der heissen Wüste. Sie schob das weisse Tuch zur Seite und fast wäre sie aus der Sänfte herausgefallen! Irgendetwas bewegte sie unfassbar schnell durch die Wüste. Es fühlte sich zwar gar nicht an als würde sich die Sänfte bewegen, doch ein pfeifende Wind zischte und Sand flog herum. Die Kindliche Kaiserin schrie verängsigt und dann sah sie nach hinten: da waren zwei Pünktchen in der Ferne. Vermutlich Sol und sein Pferd. Aber es kümmerte sie nicht. Was bewegte sie denn da? Dann bemerkte sie, dass die sieben Pferde verschwunden waren. Vielleicht waren sie ersetzt worden. Durch ... unsichtbare Diener? Unsichtbare Mächte! Als sie es laut aussprach blieb die Sänfte urplötzlich stehen. Die Kindliche Kaiserin purzelte durch die Sänfte. „Auaaaaa!“, schrie sie. Sie streckte ihren Kopf vorsichtig aus der Sänfte und sah eine riesige Pyramide vor sich. Um die Pyramide waren um die hundert Zelte – farbige, grosse und kleine. „Bleibt hier“, sie stieg aus und drehte sich nochmal zur Sänfte um. „Und erzählt Sol ja nicht wo ich bin!“ Sie lief zur Pyramide. Auf dem Weg waren hunderte von Menschen, die sie anstarrten. Sie lächelte gezwungen und winkte den kleineren Kindern zu. Vor der Pyramide geschah nichts. Doch plötzlich öffnete sich wie aus dem Nichts eine geheime Tür. Die Menschen schrien so wild herum als hätten sie erst gerade ihre Stimme entdeckt. Die Kindliche Kaiserin ignorierte sie und trat in die Pyramide ein.
Hinter ihr schloss sich die Tür mit einem leisen Klick Die Kindliche Kaiserin lief lange Zeit durch einen kleinen, dunklen Gang. Dann sah sie Licht am Ende des Tunnels und fing an zu rennen. Vor ihr erstreckten sich breite Treppen, weite Terassen und der Boden war mit rätselhaft verschlungenen Ornamenten bedeckt. Sie stieg über die Treppen und erforschte jeden Winkel. Dann fand sie eine lange Allee aus steinernen Säulen. Dort hörte sie einen leisen Ton, der sich langsam steigerte. Sie hörte eine Stimme, wie von einem Kind.
Die Kindliche Kaiserin ist hier,
kommt sie wegen mir?
Was für ein törichter Gedanke,
ich war hier, viel zu lange!
Doch frage nun Fremde,
denn ich bleib innerhalb dieser Wände.
Die Kindliche Kaiserin fragte: „Wer bist du?“ Keine Antwort. Also überlegte sie einen Moment und fragte dann:
Ich war hier für geringe Zeit,
und doch war sie voller Leid,
und Nachts kommen schlimme Träume,
die um mich wachsen wie Bäume!
Was soll ich tun?
Denn ich kann nicht mehr ruh´n!
Ein furchteinflössendes Kichern hallte durch die Halle. Es kam von überall, und doch war niemand nirgendwo zu sehen.
Ihr sucht Hilfe bei mir?
Ich werde helfen dir!
Etwas dunkles sucht Macht,
etwas das langsam erwacht!
„Was meinst du denn?“, fragte die Kindliche Kaiserin. Aber dann fiel ihr ein, dass die Uyulala sie so nicht verstehen konnte. Manchmal war das echt nervig! Sie grübelte und überlegte und fragte schliesslich:
Wie meint ihr das?
Ich handle immer voller Bedacht!
Sagt mir mehr!
Denn bei den Antworten ist alles leer!
Die Uyulala antwortete geschwind:
bald ist die Zeit gekommen!
Denn ihr seid schon fast verloren!
Ihr geht wieder zurück,
diese Welt ist auch voller Tücke.
Also reist nach Hause,
wehrt euch aber nicht grausam.
Die Kindliche Kaiserin wusste endlich was das Geschwafel von ihr zu bedeuten hatte. Sie würde bald zurückgeschickt werden! An einen anderen Ort!
Ihre Hände fingen an zu zittern. „Zeige dich!“, schrie sie in die leere Allee hinein. „Sag mir mehr!“ Aber es kam keine Antwort. Sie stürmte zurück, durch die endlosen Balkone, die dunklen Gänge. Die Tür ins Freie öffnete sich und der Anblick, der sich den Wüstenbewohnern bat, würden sie nie mehr vergessen: eine elegante Kaiserin war hineingegangen und zurückgekehrt war sie als wütende Furie. Das schöne Gesicht war vor Zorn verzerrt, die weissen glatten Haare zerzaust und ihr sanfter Blick war durch einen leeren Blick ersetzt worden. Alle Dorfbewohner:innen wichen verängstigt zurück. Die Kindliche Kaiserin drehte sich zur Pyramide und schrie: „Ich wünschte niemand mehr könnte dich treffen! Verdammt seist du!“ Als sie die Sänfte erreicht hatte, stieg sie ein.
„Zurück! Sofort!“, war das letzte das die Kindliche Kaiserin sagte, bis sie beim Elfenbeinturm angelangt war.
10. Kapitel :: Wo ist meine Liv hin?
Beim Elfenbeinturm angelangt stürmte sie wutentbrannt die Treppen hinauf, bis sie auf dem hohen Dach war. Es war hellichter Nachmittag. Der Wind pfiff und zerrte an ihren Kleidern und Haaren. Doch ihr war das egal. Sie konnte nicht aus Phantasien weggehen! Sie gehörte hier hin! Sie wollte lieber sterben als wegzugehen. Langsam schritt sie zum Rand vom Turm. Sollte sie springen? Etwas Dunkles in ihr wollte es unbedingt, doch im allerletzten Moment zog sie jemand von der Kante weg. Sie stürzte auf den Boden und sah erschrocken auf. Sol schrie sie zornig an: „Was hast du dir nur dabei gedacht! Du hättest sterben können!“
„Du hast mir gar nichts zu sagen! Ich brauche deine Hilfe nicht! Ich bin kein Kind mehr! Ich bin eine Kaiserin!“, schrie sie zurück. „Ich brauche dich nicht mehr!“
Sols Gesicht zeigte pure Enttäuschung. Mit nun leiser Stimme fragte er: „Wo ist meine Liv hin?“ Seine Augen füllten sich mit Tränen. Die Kindliche Kaiserin antwortete immer noch rasend vor Wut: „Wer auch immer Liv war, sie existiert nicht mehr! Ich wünschte du wärst auf immer verschwunden und könntest nie mehr zurückkommen!“ Das hätte sie am liebsten nie gesagt. Denn sie würde es auf immer bereuen. Ein schwarzer Strudel tat sich hinter Sol auf. Er wurde langsam hineingezogen, und das letzte, das die Kindliche Kaiserin von ihrem allerbesten Freund sah, war sein entsetztes Gesicht. Seine letzten Worte waren angsterfüllt: „Liv!“ Dann verschwand er in der Dunkelheit.
11. Kapitel :: Der letzte Wunsch
„Sol?“ Ausser Atem sah sie sich erschrocken um. Es war Abend. Sie fühlte sich, als ob ihr jemand das Herz aus der Brust herausgerissen hätte. Und übrig war ein grosses Loch! Was hatte sie nur getan? Jetzt hatte sie nur noch etwas, das ihr Herz wirklich begehrte. Jetzt blieb nur noch eine Wahl. Sie musste auf ewig in Phantasien bleiben. Sol verflüchtigte sich aus ihren Gedanken und somit auch all die Fröhlichkeit, die er mitgebracht hatte. Die Kindliche Kaiserin war nur noch eine leere Hülle mit einem einzigen Wunsch. Sie schrie aus voller Seele: „Ich will in Phantasien bleiben!“ Auryn glühte auf und fing an zu schweben. Es löste sich von ihrem Hals und schwebte vor ihr. Sie sah, wie ein blaues Licht aus ihrem Bauch kam und krümmte sich vor Schmerzen. Das war der schlimmste Schmerz, den sie je erlebt hatte. Ihr Bauch fühlte sich an, als würde er verbrennen und gleichzeitig erfrieren. Das blaue Licht verschwand in Auryn und es machte ein klickendes Geräusch. Es war verschlossen. Für immer. Das letzte das die Kindliche Kaiserin sah, war der helle Mond und dann wurde ihr ihre Seele genommen. Die Kindliche Kaiserin wurde teilnahmslos, ihr war alles egal. Und doch hatte sie ihr Ziel erreicht. Sie würde für immer in Phantasien bleiben. Und doch hatte sie alles verloren und nichts gewonnen. Das war ihr letzter Gedanke, bevor sie in der Dunkelheit verschwand.
Epilog
Bastian sass die letzten drei Stunden wie hypnotisiert da. Am Schluss war seine Kinnlade heruntergeklappt. Mondenkinds Geschichte war absolut verrückt. Sie hatte alles geopfert und nichts gewonnen. Und die Geschichte von Sonne und Mond war unglaublich! „Mondenkind ist so anders als ich sie mir vorgestellt habe! Olivia ist sehr ein schöner Name!“, sprudelte es aus ihm heraus. Herr Koreander lächelte. „Schön, dass dir die Geschichte gefallen hat!“ Bastian stattete wie jede Woche, wieder einmal einen Besuch bei Herrn Koreander ab. Fast jedes Mal erzählte dieser etwas über Phantasien, doch dieses Mal hatte Herr Koreander eine schlimme Geschichte erzählt. Konnte es sein, dass ... Nein! Das konnte nicht sein! Oder vielleicht doch? Bastian grübelte eine Weile und fragte dann: „Herr Koreander, woher wissen sie das alles?“
Karl Konrad Koreander lächelte geheimnisvoll und doch voller Schmerz und Leiden.
„Ganz einfach: ich war Sol.“

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TitelDer Ursprung Phantasiens
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Autor:inLucia Sague
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GenreFiction
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VerlagLeporello