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Jessicas Geist

| Kinder- und Jugendredaktion | Jugendbuch

Francis ist der Einzige, der sie sehen kann. Sie, die junge Jessica, welche seit einem Jahr einsam und ungesehen umherirrt. Andrew Norris’ Roman „Jessicas Geist“ könnte ein kleines Meisterwerk sein mit einem originellen Plot, einer geschmeidigen Sprache und einem umwerfenden Humor. Wenn da nicht das echt abgeflachte letzte Drittel des Romans wäre. Schade. Sehr schade! Die Kritik von Sabrina Michel. 

Francis entdeckt Jessica an einem eisigen Wintertag. Weil er nicht gerne bei den anderen Schülern in der Mensa sitzt, verbringt er seine Mittagspause trotz der Kälte lieber draussen. Als sich ein Mädchen in einem Sommerkleidchen neben ihn auf die Bank setzt, staunt er nicht schlecht. Und noch viel überraschter ist das Mädchen, als Francis ihr einen Schluck seines warmen Tees anbietet. Mit ihr hat nämlich über ein Jahr kein Mensch mehr gesprochen und dies aus einem einfachen Grund: Jessica ist ein Geist und für alle anderen unsichtbar.

Auf witzige Art und Weise beschreibt der Autor, wie Jessica und Francis sich kennenlernen. Dabei kommt es angenehmerweise nicht zu umständlichen Zweifeln, warum Francis nun den Geist Jessica sehen kann. Er akzeptiert sie so wie sie ist, denn Jessica tut ihm gut. Und diese bewundert Francis’ aussergewöhnliches Hobby: Designerkleidung selbst entwerfen und nähen.

Stereotype Gesellschaft
Lange ist Francis der Einzige, der Jessica sehen kann. Doch dann kommt eines Tages ein Mädchen namens Andy hinzu. Sie wurde, genau wie Francis, in der Schule gemobbt. Dennoch ist sie das pure Gegenteil von Francis, denn sie liebt Sport, vor allem Boxen. Und wenn ihr einmal etwas nicht passt, dann schlägt sie die anderen einfach zusammen. Diese ungewöhnliche Rollenaufteilung – das Mädchen ist sportlich und impulsiv, der Junge näht Kleider und ist sensibel – und die Tatsache, dass Francis und Andy von ihren Kollegen ausgeschlossen werden, macht darauf aufmerksam, dass unsere Gesellschaft noch immer klare Männer- und Frauenbilder vorschreibt. Ausserdem zeigt der Roman die Konflikte junger Menschen auf, welche sich in eine Gesellschaft integrieren.

Abgeflachter Schlussspurt
Mit einem dritten Kind, Roland, der Jessica ebenfalls sehen kann, beginnt die Originalität des Romans jedoch abzuflachen. Auch Roland wird in der Schule gemobbt. Plötzlich erfährt man, dass alle drei mit Selbstmordgedanken gespielt haben. Es wird je länger je mehr auf das Mobbing-Thema eingegangen, was den gesamten Spannungsbogen zusammenbrechen lässt. Mit der einzigen Botschaft: Kinder, hänselt Eure Mitschüler nicht!

Natürlich ist dies von enormer Wichtigkeit, doch dies würde den Jugendlichen viel eindrücklicher und glaubhafter vermittelt, würde der Roman so gehaltvoll und witzig weitergehen, wie er dies zu Beginn gewesen ist.

Sehr zu empfehlen ist also die erste Romanhälfte. Dann wäre es jedoch ratsam, das Buch wegzulegen und sich selbst ein Ende auszudenken. 


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Kinder- und Jugendredaktion

  • Titel
    Jessicas Geist
  • Autor:in
    Andrew Norris
  • Verlag
    rowohlt rotfuchs
  • Erscheinungsdatum
    2016
  • Seiten
    221
  • Übersetzer:in
    Christiane Steen
  • Bewertung