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Mausmeer

| Silke Rabus | Jugendbuch

Tamara Bach schreibt ein vielschichtiges Sprachkunstwerk über den schmerzhaften Prozess des Erwachsenwerdens. Erzählt aus den wechselnden Perspektiven des 18-jährigen Ben und seiner grossen Schwester Annika. Der Tipp von Silke Rabus.

„Immer machst du Ärger“, denkt sie über ihn. „Sei Pippi, sei nicht Annika“, sagt er wiederum zu ihr. Die Rollen sind klar verteilt. Der gerade 18 Jahre alt gewordene Ben ist der Unruhestifter, die grosse Schwester Annika die Vernünftige. So war es immer schon. Und so ist es auch jetzt, an diesen stillen Osterfeiertagen, irgendwo im Niemandsland in Opas leerstehendem Haus am See. Dorthin hat Ben seine Schwester mitgenommen, um endlich mit ihr zu reden. In einer Nacht-und-Nebelaktion, ohne das Wissen der Eltern. Und gegen den Willen von Annika, die bei seiner Geburtstagsparty bekifft und betrunken, ohne Geld und Handy einfach bei ihm im Auto eingeschlafen ist.

Wie durch eine Lupe sieht man ab da auf die klein gewordene Welt von Bruder und Schwester. Ben und Annika schweigen, spielen Karten, kochen. Sie gehen spazieren und weichen einander aus, reden miteinander und denken doch am anderen vorbei. Und während im ständigen Gedankenfluss der Geschwister Kindheitserinnerungen und Zukunftssorgen immer präsenter werden, schwenkt der Blick auf die verregnete Hintergrundkulisse am See, an dem einige Männer stumm stehen und im Trüben fischen. Osterangeln. Auch das war immer schon so.

Vielschichtiges Sprachkunstwerk
Mit präziser Feder schreibt sich Tamara Bach in die Leben der Geschwister ein, die sich zwischen zugewiesenen Rollenmustern und überkommenen Erwartungshaltungen irgendwann einmal verloren haben. Mal wird aus seiner, mal aus ihrer Ich-Perspektive berichtet. Und immer schärfer und facettenreicher gerät die anfangs schablonenhafte Zeichnung der beiden Figuren. Die Sprache ist dabei durchaus gewöhnungsbedürftig. Mal sind die Sätze abgehackt und zerfallen in Fragmente oder sogar einzelne Wörter. Mal finden sich blumig-bunte, überlange Wortspielereien im ununterbrochenen Bewusstseinsstrom. Unsinnige Gedankensätze stehen neben punktgenauen Sinneswahrnehmungen. Knappe Dialoge neben exakt beobachteten Landschaftsbeschreibungen. Kluge Gesellschaftsanalysen neben zerfetzten Liedtexten. Ganz so, wie die Welt eben ist.

Viel passiert nicht in diesem schmalen Roman, den man wieder und wieder lesen möchte, um alle seine Feinheiten zu registrieren. Und doch gibt es Ereignisse, die Ben und Annika nachhaltig verändern und eingebrannte Denk- und Verhaltensweisen allmählich auflösen. Ein Schlüssel versinkt im schlammigen See. Ein Tisch fällt um. Ein Auge schwillt an. Eine Frage steht im Raum: „Was hast du nur vor?“, will eine Freundin per SMS von Ben wissen. Und der beginnt, hin- und hergerissen von den wilden Wogen des Erwachsenwerdens, zumindest zu denken: „Ein Ziel haben. Ja, das wäre gut.“


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Silke Rabus

Silke Rabus ist Print- und Online-Redakteurin, Biografin, Lektorin, Journalistin, Kritikerin und Literaturvermittlerin. 
  • Titel
    Mausmeer
  • Autor:in
    Tamara Bach
  • Genre
    Fiction
  • Verlag
    Carlsen
  • Erscheinungsdatum
    2018
  • Seiten
    144
  • Bewertung