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Wie ein leeres Blatt

| Fachredaktion | Jugendbuch

Tabula rasa mit der eigenen Existenz - mit einem Mal kann sich Eloïse an nichts mehr erinnern. Die rundum geglückte Graphic Novel "Wie ein leeres Blatt" erzählt von der Suche der jungen Pariserin nach ihrem eigenen Leben, ihrer eigenen Identität. Der Tipp von Christina Ulm. 

Manchmal erfordert das Leben Tabula rasa: Eine Beziehung beenden, eine Wohnung aufgeben oder alte Gewohnheiten hinter sich lassen. Diese Enden oder umgekehrt neue Anfänge beziehen sich aber meist nur auf einen Bereich des Lebens.

Eine charmante Identifikationsfigur

Was der jungen Pariserin Eloïse in dieser rundum geglückten Graphic Novel widerfährt ist hingegen von viel umfassenderer Art: Auf einer Parkbank sitzend weiss sie plötzlich nicht mehr wer sie ist – nicht, wie sie heisst, nicht, wo sie wohnt, nicht, wo sie herkommt oder hinwill.

Tabula rasa mit der eigenen Existenz sozusagen. Geblieben sind ihr nur die konkreten Spuren, die sie in der Welt hinterlassen hat: Mit dem Inhalt ihrer Handtasche kann sie ihren Namen und Wohnort rekonstruieren, mit ihrem Handy ihren Arbeitsplatz. Mit detektivischem Spürsinn begibt sie sich so auf die Suche nach sich selbst und erweist sich dabei als unheimliche charmante Identifikationsfigur – wortwörtlich, gilt es doch sowohl für Eloïse als auch die Lesenden diese Eloïse kennen zu lernen.

Dabei spaltet sich die Figur spannend auf: In jene junge Frau, deren Charakter man aufgrund ihrer Wohnung, ihrer persönlichen Gegenstände und ihres Umfelds erahnen kann und die Eloïse ohne Gedächtnis, die sich nur allzu oft über sich selbst wundert, wenn sie beispielsweise ihr "eigenes" Duschgel erschnuppert:

"Wie ist DIE denn drauf mit ihrem ganzen FRÜCHTE-kram?"

Sichtbar wird diese Diskrepanz also ganz konkret im Sprachgebrauch, wenn Eloïse von sich selbst in der dritten Person spricht, aber auch im Subtext der Erzählung, wenn zunehmend sichtbar wird, dass ihr die alte Identität einfach nicht mehr passt.

Die Panels folgen eng Eloïses Wahrnehmung und erzählen gleichsam komisch wie tiefgründig mit welcher Akribie Eloïse ihre scheinbare Persönlichkeit erforscht: Sie probiert ihre Hobbies aus (Stricken? Zeichnen? Gitarre spielen?), ihre Freunde und Gewohnheiten und füllt Leerstellen – dort, wo es keine Anhaltspunkte gibt – mit unterschiedlichen Gedankenspielen.

Reiche Phantasie

Etwa wenn sie sich in graphisch besonders hervorgehobenen Panels ausmalt, Geheimagentin gewesen oder von Aliens entführt worden zu sein oder die Vorstellung ihres Arbeitsplatzes (eine heimelige Buchhandlung) von der Realität (ein anonymisierter Grosskonzern) doch stark abweicht, zeugt das von ihrer reichen Phantasie und entsprechender Mediensozialisation.

Mit ihrer leicht überzeichneten Mimik und Gestik wächst einem die junge Frau sehr ans Herz – ein bisschen verpeilt, aber sehr clever, ein bisschen Drama, aber sehr reflektiert.

Sowohl in den Zeichnungen als auch im Text ist Eloïse psychologisch sehr genau skizziert. Doch je näher man als Leserin der neuen Eloïse kommt, desto mehr entfremdet sich Eloïse selbst. Denn die Frau, die sie in ihren Recherchen erkennt, scheint nicht glücklich gewesen zu sein. So sichtet sie Aktenberge über sich selbst, katalogisiert ihr Wohnungsinventar und kommt sich doch kein Stück näher.

Genau skizziert

Langsam schiebt sich eine stimmige melancholische Note über den Text und Eloïse versteigt sich im manischen Wahn, sich selbst gerecht zu werden, sich ihrem alten Leben anzupassen, es schlicht wieder zu erinnern. Doch Ärzte, Selbsthilfegruppen, hypnotische Regression oder der Besuch ihres Kindheitsortes können nicht helfen und so ist sie letztlich wieder zurückgeworfen auf sich selbst. 

Dass der spannenden Suche nach Identität keine finale Enthüllung des Grundes ihrer Amnesie folgt – oder gar ein Erinnern – tut dieser grossartigen Graphic Novel keinen Abbruch. Ganz im Gegenteil: Der Schlussakkord stimmt den Text noch einmal raffiniert um – und deutet Eloïses Amnesie nicht als Verlust, sondern als Chance. Sie löst sich von der Vergangenheit, von allen Dingen und macht erneut Tabula rasa – diesmal ganz konkret:

"Kleinscheiß, Modeschmuck … nichts mit einer Geschichte …"


... und wirft all das weg, an dass sie sich geklammert hat. Wie auf einem leeren Blatt darf sie ihre Persönlichkeit neu schreiben. Diesmal richtig. Diesmal glücklich.
 


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Fachredaktion

  • Titel
    Wie ein leeres Blatt
  • Autor:in
    Boulet
  • Genre
    Comic / Graphic Novel
  • Verlag
    Carlsen
  • Erscheinungsdatum
    2013
  • Seiten
    208
  • Illustrator:in
    Penelope Bagieu
  • Übersetzer:in
    Franz. v. Ulrich Pröfrock
  • Bewertung