Die Reise nach Ägypten
Wenn es das Schicksal nicht gut meint, braucht es manchmal einen neuen Ort, auf den man hoffen kann. Das Land, in dem alles besser wird, heisst in diesem Buch Ägypten. Der Kinderbuch-Tipp von Andrea Kromoser.
Hermann Schulz schreibt die Geschichte eines Freundes auf. Eine Episode, die ihm dieser, der Kinderarzt und Schriftsteller Fernando Silva, einmal erzählt hat. So oder so ähnlich soll es sich zugetragen haben: Ort der Handlung ist das Kinderkrankenhaus „La Mascota“ in der nicaraguanischen Hauptstadt Managua. Einer seiner jungen Schützlinge macht Fernando besonders grosse Sorgen: der Strassenjunge Filemón kommt sterbenskrank ins Hospital.
Erzählkunst
Doktor Fernando Silva versteht sich, neben der medizinischen, auf eine besondere Art der Versorgung. Er erzählt Geschichten, weil er weiss, wie wesentlich es für Kranke ist, Hoffnung zu haben. Jedes Jahr am Weihnachtsabend besucht der Arzt die Kinder seiner Station, um ihnen Geschenke und Geschichten zu bringen. Er selbst ist einer, der gerne fabuliert, so dreht und wendet sich die Erzählung von Maria, Josef und ihrem neugeborenen Kind in Fernandos Versionen, was für grosses Vergnügen sowie bewegte Diskussionen unter den Kindern sorgt. Auch auf die Flucht der jungen Familie kommt der Arzt zu sprechen und davon, dass sie erst dann sicher sind, wenn sie es bis Ägypten schaffen. „Denn in Ägypten war es streng verboten, Kindern etwas Böses zu tun. Und die Kinder bekommen da jeden Tag ein grosses Vanilleeis, schon zum Frühstück. Stellt euch das vor!“
Als Fernando später an diesem Abend endlich das Krankenhaus verlassen möchte, um mit seiner Familie Weihnachten zu feiern, entdeckt er plötzlich Filemón, der ihm heimlich gefolgt ist. Vorsichtig spricht das Kind an, was ihm auf dem Herzen liegt. Er fragt, ob es möglich sei, sein Weihnachtsgeschenk umzutauschen, in etwas, das ihm gerade sehr viel wesentlicher erscheint. „Vielleicht, vielleicht … kannst du mir eine Bus-Fahrkarte nach Ägypten dafür besorgen? (…) Da in Ägypten retten sie Kinder …“, sagte der Junge leise und sah den Arzt mit grossen Augen an. – Jetzt ist es an Fernando zwischen Realität und Phantasie, zwischen erwachsener Erklärung und kindlicher Hoffnung zu entscheiden …
Hoffnung in Bruchstücken
„Die Reise nach Ägypten“ ist „Eine Geschichte für alle Jahreszeiten“, wie im Untertitel vermerkt wurde. Eine Weihnachtsgeschichte für jede Zeit im Jahr. Weil es zu jeder Zeit gelten muss, darauf aufmerksam zu machen, unter welchen Bedingungen Kinder an vielen Orten diese Welt leben.
Tobias Krejtschi zeichnet seine Bilder auf Kartonreste, die wie bruchstückhaft herausgerissene Szenen den Text begleiten. Farblich scheint die Pappe den Grundton anzugeben. Der Illustrator malt in Beige-, Rot- und Grautönen auf den braunen Hintergrund. Szenen rund um die Ereignisse im Kinderkrankenhaus wechseln sich mit jenen aus den Weihnachtsgeschichten Fernandos ab und lassen so alle Erzählungen zu einer grossen verschmelzen. Einer leisen jedoch aussagestarken Geschichte über zwei Menschen, die sich aufmachen um das Land ihrer Hoffnungen noch an diesem Weihnachtsabend zu erreichen.
Andrea Kromoser

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TitelDie Reise nach Ägypten
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Autor:inHermann Schulz
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GenreFiction
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Verlagdtv Reihe Hanser
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Erscheinungsdatum2016
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Seiten64
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Illustrator:inTobias Krejtschi
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Bewertung