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Die Kinder im Wind

| Fachredaktion | Jugendbuch

Dirk Steinhöfels Bild-Roman "Die Kinder im Wind" irritiert und fasziniert mit seiner Bildgewalt und seinem Einblick in die Verbildlichungen kindlicher Psyche. Die Kritik von Heidi Lexe.


W – A – G – N – E – R. Die Buchstaben sind in kleine Holzwürfel geprägt, die auf eine Schnur aufgezogen und rund um das Ziffernblatt einer Uhr arrangiert werden; auf diesem Ziffernblatt thront wie auf einer Art Podest ein Kinderwagen im Stil der 1950er Jahre. Die Namensgebung als zentrales Moment der Identität wird damit scheinbar an den Beginn von Lebenszeit gebunden. Scheinbar. Denn die Vorgeschichte hat gezeigt, dass "Wagner" die höchstmöglich unpersönliche Namensvariante für ein Kind ist, an dem niemand Interesse zeigt.

Mit dem Umblättern entpuppt Wagner sich auch folgerichtig als gebrochene Identität: Der schicke Kinderwagen ist einem schlichten Holzleiterwagerl gewichen, die Namenskette ist zerrissen, einzelne Holzwürfel sind durch Steine mit provisorisch aufgemalten Buchstaben ersetzt worden, die dem Namen entsprechende Buchstabenchronologie ist durcheinandergeraten. Das anachronistische Verhältnis zwischen Wagners Geburtsjahr und Styling des Kinderwagens verweist auf ein Hin und Her zwischen den Zeiten, eine Form der Gleichzeitigkeit, die Dirk Steinhöfels artifiziellen Bild-Roman prägt. Handlungsebenen werden ebenso durchbrochen wie Bildseiten; verbindende Schnüre lösen sich, Baumgabeln durchstossen die Seiten, das Meer des Vergessens schwappt über Wagner zusammen.

Das Moment der Befriedung wird an puppenhafte Gestalten gebunden, die Wagner mit sich nehmen. In lichtdurchfluteter Naturlandschaft, in der feingliedriges Herbstlaub den Weg weist, trifft Wagner auf das Sinnbild der Zeitreise: einen Zug. Dessen immer noch rauchende Lokomotive scheint ebenso gestrandet wie jene Gestalten, die sich in deren Innerem eingerichtet haben.

Es sind märchenhafte Szenarien, die Dirk Steinhöfel in die schäbigen Zugabteile einschreibt, befriedete ebenso wie geheimnisvolle Momente, wenn sich Däumlinge an Schwäne schmiegen und Hexenkinder rote Farbakzente setzen. Die Gesichter all dieser Kinder sind abgewandt – erst nach und nach wenden sie sich Wagner – und damit den Betrachterinnen – zu und enthüllen ihre jeweiligen Lebensgeschichten. Es sind beschädigte Biografien wie jene von Wagner selbst, Biografien, die geprägt sind von Vereinzelung: Biografien, in denen Erwachsene nur dann auftauchen, wenn den Kindern Gewalt angetan wird.

Als künstlerisches Gestaltungsmoment nutzt Dirk Steinhöfel ein Medium, das als Inbegriff biografischer Annäherung zuletzt auch verstärkt im Umfeld der Kinder- und Jugendliteratur aufgetaucht ist: das Album. Seinem Wesen nach ist es eine Sammlung einzelner Bilder oder Fotografien, deren Zusammenhang erst durch Hintergrundkenntnis, Bildunterschriften, mündliche Erzählungen hergestellt werden kann. Das dem Comic innewohnende Moment der Induktion, die das Erkennen des Ganzen meint, obwohl nur Teile davon wahrgenommen werden können, wird hier auf die Spitze getrieben. Die Bilder seiner Alben lässt Dirk Steinhöfel daher zu Bildsequenzen anwachsen, die sehr kursorisch und sehr ausschnitthaft in die Lebensgeschichten der Kinder aus dem Zug hineinführen.

Und das wortwörtlich: Die Möglichkeit, tiefer in den Erinnerungs-Raum des Zuges vorzudringen führt der Künstler mit dem Versuch zusammen, seinen Alben mit den Mitteln der Zweidimensionalität stets Dreidimensionalität zu verschaffen. Jeder Lebensgeschichte wird dabei ein eigenes Foto-Design zugeordnet, vom schweren Pappbild bis zum Polaroid; diese Fotos werden in Alben genietet oder mit Hilfe der guten, alten Fotoecken auf Kartonseiten geklebt, die sich zum Sujet der jeweiligen Geschichte wandeln, zu Holzverschlägen und Steinmauern werden, durch die sich an der Stelle der Bindfäden alter Ringmappen Stacheldraht zieht. Eine expressive Fülle an Requisiten reichert die Seiten der Alben zusätzlich an, verweist durch Alltagsgegenstände auf die jeweilige Zeitebene, setzt durch Naturmetaphern Assoziationen frei.

Auch die Gestaltung der Bilder selbst entspricht diesem Gestus der Dreidimensionalität, wenn Dirk Steinhöfel Körper in all ihrer Haptik kreiert und sie computerunterstützt ins fotorealistische Szenario setzt.

In den an Düsternis kaum zu übertreffenden Binnenerzählungen werden Märchenmotive mit dem Alltagsrealismus der Un-Orte unserer Gesellschaft und Geschichte zusammengeführt, wenn zum Beispiel ein Geschwisterpaar im Betonwald der Grossstadt ums Überleben kämpfen muss, indem es sich eine Bro(t)samenspur aus Pfennigen zusammenschnorrt – letztlich aber doch im Räucherofen der Opiumpfeife verelendet. Wie stets am Übergang von Leben und Tod der in mehrfacher Hinsicht vorgeführten Kinder treten auch hier die Puppenfiguren auf und geleiten sie in eine liminale Welt. Kleine weisse Frühlingsblüten stossen dann durch den Karton der Alben, die sich im Zug angesammelt haben und in die Wagner die Bilder der anderen Kinder ebenso einordnet wie sein eigenes. Sein hölzernes Leben wandelt sich in eine utopierte Kinder-Welt der Freiheit. Die Blaue Fee der Holzpuppe(n) wird hier zur Tochter eines Puppenspielers gemacht. Ihre Geschichte rahmt jene der Kinder ein; sie wird zur Erlöserfigur, die den aus der Zeit gefallenen, spinnenverhangenen Zug entdeckt und zu einem befriedeten Jenseits-Ort macht.

Dirk Steinhöfel, der bereits mit "Die Wolke" an der Schnittstelle von Illustration und Graphic Novel gearbeitet hat, legt mit "Die Kinder im Wind" ein Gewaltwerk im wahrsten Sinn vor. In der Gesamtheit seiner Zeichensetzungen kaum erfassbar, schafft es dennoch außerordentlich intensive Eindrücke davon, wie sehr Kindheit sich von jener Bilderbuch-Welt unterscheiden kann, die ihr im Fiktionalen so gerne zugeordnet wird.

Im literaturwissenschaftlichen Kontext hat Ernst Seibert den Begriff des Kindheitsromans geprägt – eines Romans, der sich nicht an Kinder richtet, sondern sich dem zeitgeschichtlichen Erleben aus kindlicher Perspektive annähert. In diese Tradition reiht Dirk Steinhöfel sich mit seinem Bild-Roman ein. Er irritiert. Er fordert heraus. Er fasziniert mit seiner Bildgewalt ebenso wie mit seinem Einblick in die Verbildlichungen kindlicher Psyche. Ein zweiter Blick, wie er der Definition der Kröte des Monats zu Grunde liegt, wird da nicht genügen. Doch mit jedem weiteren lohnenden Blick eröffnet sich eine neue metaphorische Ebene, eine neue Assoziations- und Interpretationsmöglichkeit.

 


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Fachredaktion

  • Titel
    Die Kinder im Wind
  • Autor:in
    Dirk Steinhöfel
  • Verlag
    Thienemann
  • Erscheinungsdatum
    2013
  • Seiten
    224
  • Illustrator:in
    Dirk Steinhöfel
  • Bewertung